Es ist August in Pacific Beach, Kalifornien – die „Hundstage“ des Sommers. Die Touristen überschwemmen die Strände, die Einheimischen haben sich längst zurückgezogen, und der Ozean selbst scheint zu träge, um nennenswerte Wellen zu produzieren. „Kansas“, murmelt Hang Twelve missmutig, während die Dawn Patrol – jene Gruppe von Surfern, die wir aus „Pacific Private“ bereits kennen – dennoch wie jeden Morgen im Wasser treibt. Denn auch wenn keine Wellen kommen: Die Rituale bleiben.
So beginnt „Pacific Paradise“, der zweite und bislang letzte Band von Don Winslows Boone Daniels-Reihe, die uns zurück in die Welt des surfenden Privatdetektivs und seiner unkonventionellen Freunde führt. Doch während im ersten Band das Surfen und die einzigartige Kultur der kalifornischen Küste im Vordergrund standen, taucht Winslow in der Fortsetzung tiefer in die Schattenseiten des vermeintlichen Paradieses ein.
Pacific Paradise
Autor: Don Winslow
Format: 12 x 19 cm
Seiten: 386
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3518461723
Die Gentlemen’s Hour: Wenn die zweite Schicht beginnt
Während der erste Band uns in die „Dawn Patrol“ einführte – jene Gruppe von Frühaufstehern, die bei Sonnenaufgang die ersten Wellen des Tages reiten – lernen wir nun die „Gentlemen’s Hour“ kennen, die zweite Schicht am Strand. Es sind die älteren Surfer, die Veteranen, die wohlhabenden Geschäftsleute, die sich den Luxus leisten können, erst später ins Wasser zu gehen. Eine andere Welt innerhalb derselben Surfgemeinschaft, mit eigenen Regeln, Hierarchien und Geheimnissen.
Boone Daniels, unser Protagonist, bewegt sich zwischen diesen beiden Welten. Er gehört zur Dawn Patrol, bleibt aber oft für die Gentlemen’s Hour, beobachtet, lauscht, absorbiert die Gespräche und Gerüchte, die über das Wasser schwappen. In dieser zweiten Schicht wird er von einem alten Freund und wohlhabenden Surfer, Dan Nichols, angesprochen, der ihn bittet, seine Frau zu beschatten. Ein Auftrag, den Boone nur widerwillig annimmt – was sich als erste von vielen schwierigen Entscheidungen herausstellen wird.
Der Mord an einer Legende
Doch dann erschüttert ein Verbrechen die Gemeinschaft von Pacific Beach: Kelly „K2“ Kuhio, ein legendärer Surfer aus Hawaii, wird brutal erschlagen. Die gesamte Surfgemeinde ist in Aufruhr, und alle Indizien deuten auf einen jungen Schläger namens Corey Blasingame hin, der den Mord bereits gestanden hat. Für die meisten ist der Fall klar – ein weiterer Beweis für die zunehmende Gewalt an den einst friedlichen Stränden.
Hier nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung: Petra Hall, eine ambitionierte Anwältin und Boones On-Off-Freundin, bittet ihn, für die Verteidigung des mutmaßlichen Mörders zu ermitteln. Ein Auftrag, der Boone nicht nur in Konflikt mit der öffentlichen Meinung, sondern auch mit seinen eigenen Freunden bringt. Die Dawn Patrol – seine gewählte Familie – wendet sich von ihm ab, als er den Fall annimmt. Plötzlich steht Boone allein da, isoliert von seiner Gemeinschaft, während er tiefer in die Umstände des Mordes eintaucht.
Tiefere Wasser, gefährlichere Strömungen
Während „Pacific Private“ uns die Surfkultur Kaliforniens näherbrachte, zeigt uns „Pacific Paradise“ die Risse in diesem scheinbaren Idyll. Winslow konfrontiert seinen Protagonisten mit moralischen Dilemmata, die weit über die einfache Unterscheidung von Gut und Böse hinausgehen. Boone muss sich fragen, ob seine Loyalität der Wahrheit oder seinen Freunden gilt, ob er bereit ist, für seine Überzeugungen soziale Ächtung in Kauf zu nehmen.
Die beiden Fälle – die Beschattung von Dans Frau und die Ermittlung im Mordfall K2 – beginnen sich auf unheimliche Weise zu überschneiden. Hinter beiden Geschichten verbirgt sich ein Immobilienskandal von erschreckendem Ausmaß. Achtzehn Luxushäuser, die auf unsicherem Grund gebaut wurden, sind bei einem Erdrutsch in den Abgrund gestürzt – ein Desaster, das vertuscht werden sollte und nun tödliche Konsequenzen nach sich zieht.
Winslow verwebt geschickt verschiedene Erzählstränge: die Korruption in der Immobilienbranche, die Gentrifizierung der Küstengebiete, die Verdrängung der traditionellen Surfer-Kultur durch kommerzielle Interessen. All diese Themen waren bereits im ersten Band angelegt, werden hier aber mit größerer Dringlichkeit und Konsequenz behandelt.
Freundschaft auf dem Prüfstand
Das Herzstück des Romans ist jedoch nicht der Kriminalfall, sondern die Beziehung zwischen Boone und seinen Freunden der Dawn Patrol. Dave „the Love God“, High Tide, Johnny Banzai und Hang Twelve – sie alle wenden sich von ihm ab, als er den Fall annimmt. Nur Sunny Day, die im ersten Band eine zentrale Rolle spielte, fehlt diesmal, da sie an der Women’s Professional Surfing Tour in Australien teilnimmt (ein cleverer Schachzug Winslows, um die Dynamik der Gruppe zu verändern).
In einer besonders eindringlichen Passage reflektiert Boone über diese Entfremdung:
„Was ist mit deinen Freunden, der Dawn Patrol? Waren auch diese Freundschaften auf einem brüchigen, kaputten Fundament erbaut? War es von Anfang an unvermeidbar, dass uns Unterschiede in Hautfarbe, Geschlecht, Ambitionen und Träume auseinanderreißen würden, wie Kontinente, die einst fest verbunden waren und zwischen denen sich jetzt Ozeane erstreckten?“
Diese existenzielle Frage steht im Zentrum des Romans. Kann wahre Freundschaft Meinungsverschiedenheiten überstehen? Gibt es Grenzen der Loyalität? Und was geschieht, wenn die Gemeinschaft, die man als seine Heimat betrachtet hat, einen plötzlich als Außenseiter behandelt?
Die Welle bricht: Tempo und Struktur
Stilistisch bleibt Winslow seinem Markenzeichen treu: knappe, präzise Sätze, die dem Roman ein unaufhaltsames Tempo verleihen. Doch während „Pacific Private“ von Anfang an mit hoher Geschwindigkeit startete, beginnt „Pacific Paradise“ bewusst langsamer – wie das träge Meer in den Hundstagen des Spätsommers.
„Es ist langweilig“, heißt es zu Beginn des Romans, und tatsächlich plätschert die Handlung zunächst dahin, ohne große Wellen zu schlagen. Doch wie ein erfahrener Surfer weiß Winslow genau, wann er die Spannung aufbauen muss. Mit jedem Kapitel türmt sich die Geschichte höher auf, bis sie schließlich in einem dramatischen Finale bricht und alles mit sich reißt.
Diese Struktur spiegelt perfekt das zentrale Motiv des Romans wider: die Welle. Nicht die perfekte Welle, die Boone im ersten Band jagte, sondern eine zerstörerische Kraft, die droht, sein Leben und alles, woran er glaubt, unter sich zu begraben.
Kalifornien im Wandel
Wie schon im ersten Band ist auch „Pacific Paradise“ eine sozialkritische Betrachtung Kaliforniens. Winslow zeigt uns ein Land im Wandel, in dem die ursprüngliche Surfkultur zunehmend von kommerziellen Interessen verdrängt wird. Die Immobilienspekulation an der Küste, die Gentrifizierung traditioneller Viertel, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich – all diese Themen werden nicht plakativ, sondern organisch in die Handlung eingewoben.
Besonders eindrücklich ist Winslows Darstellung des Immobilienskandals, der beiden Fällen zugrunde liegt. Die Häuser, die in den Abgrund stürzten, werden zur perfekten Metapher für den moralischen Verfall, den der Autor beschreibt – schöne Fassaden, errichtet auf unsicherem Grund, die bei der ersten ernsthaften Erschütterung zusammenbrechen.
Fazit: Mehr als nur eine Fortsetzung
„Pacific Paradise“ ist weit mehr als eine bloße Fortsetzung des ersten Bandes. Während „Pacific Private“ uns in die sonnendurchflutete Welt des Surfens an der kalifornischen Küste einführte, zeigt uns der zweite Band die Schattenseiten dieses vermeintlichen Paradieses. Die Charaktere, die wir im ersten Teil kennengelernt haben, werden tiefer ausgelotet, ihre Beziehungen auf die Probe gestellt, ihre Überzeugungen hinterfragt.
Don Winslow beweist mit diesem Roman erneut sein Talent, spannende Kriminalgeschichten mit tiefgründigen gesellschaftlichen Beobachtungen zu verbinden. Die Surf-Kultur Kaliforniens dient ihm dabei nicht nur als exotische Kulisse, sondern als Mikrokosmos, in dem sich größere gesellschaftliche Konflikte widerspiegeln.
Für Leser, die den ersten Band genossen haben, bietet „Pacific Paradise“ eine lohnende, wenn auch dunklere Fortsetzung. Die Entwicklung der Charaktere, insbesondere Boones moralische Reise, steht im Mittelpunkt und verleiht dem Roman eine emotionale Tiefe, die über das Genre des Kriminalromans hinausgeht.
Wie eine perfekte Welle baut Winslow die Spannung langsam auf, bevor er sie in einem dramatischen Finale brechen lässt. Und obwohl bislang kein dritter Band der Reihe erschienen ist, bleibt das Gefühl, dass die Geschichte von Boone Daniels und der Dawn Patrol noch nicht vollständig erzählt ist – wie eine Welle, die sich zurückzieht, nur um später mit neuer Kraft zurückzukehren.